GEGENWÄRTIGE RUINEN
Werkangaben
2022, Stahl, PVC, Kunststoffdispersion, 321 x 1433 x 78 cm
Link zum Interview auf Youtube
Text: Maxim Himmelspach
Was erinnern wir? Können wir unsere Erinnerungen beeinflussen?
Inwieweit bestimmt die Gegenwart unsere Sicht
auf Vergangenes oder Vergangenes unsere Sicht auf Gegenwärtiges?
GEGENWÄRTIGE RUINEN
Chronometer des Gegenwärtigen
Es scheint fast unmöglich, eine aktuelle Einordnung des Gegenwärtigen abzugeben, ohne an der aktuellen Kriegssituation in Europa vorbeizuschreiben. Die Gefahr, ins Pathetische oder Apokalyptische abzudriften, holzschnittartige Vergleiche anzufertigen oder nur oberflächliche Moralurteile zu fällen, ist in der Kunstproduktion wie auch Rezeption vorhanden.
So erscheint auf den ersten Blick auch der Installationstitel „Gegenwärtige Ruinen“ von Andrè Simon Waletzki wie ein einfacher Kommentar auf die trostlosen Perspektiven der nächsten Jahre zu wirken. Sich den Mitteln der Collage/Assemblage bedienend, fragmentiert sich die Wandinstallation und unterläuft so jede Festlegung, die sich als politische Parole eignen könnte.
In der Zusammenführung und Überlagerung von monochromen
Farbflächen, handgebogenem Rundstahl und Abbildungen unscheinbarer Gerölllandschaften mäandert Waletzki an den Grenzen dessen, was man noch vor hundert Jahren in Gattungen unterteilt hätte: Bildhauerei, Malerei, Zeichnung sowie auch später der Fotografie.
Die Sprengung von Gattungsbegriffen ist spätestens seit den 1960er Jahren kein neues Verfahren, dennoch bleibt die Neuinterpretation, Permutation oder Hinterfragung von Prozessen und Gegebenheiten ein grundlegender Bestandteil künstlerischen Schaffens. Dahingehend zeigt sich auch, dass kulturelle Konventionen und Normen nicht ausschließlich im Bereich des Abstrakten verweilen, sondern ganz im Sinne einer Praxeologie (Bourdieu) im Körper different eingeschrieben sind und man diese reproduziert. Künstlerisches Arbeiten heißt mit diesen Mechanismen aktiv spielen. So ist beispielsweise die Tatsache, dass bei Waletzkis Arbeitsweise immer betont wird, dass jeglicher Stahl handgeformt ist, eine Positionierung also gegen reine Abstraktion und Formalismus: Hier wird aufgezeigt, dass der Prozess der körperlichen Verformung jenes starren Materials von großer Relevanz ist. Dass die leibliche Einschreibung im Körper auf die des Stahls übertragen werden soll. Jegliche Verformungen sind also spezifisch auf Waletzki zurückzuführen und eben nicht auf Maschinen, die in Masse und Menge (re)produzieren können, egal wo auf der Welt sich die Fabrik befindet. Die Künstler*innen produzieren nicht nur Kunstwerke, sondern gleichwohl auch Artefakte ihrer Zeit, wie sie selber auch welche sind. Dies macht zeitgenössische Künstler*innen zu Chronometern des Gegenwärtigen.
Grenzen aus Rundstahl oder: Kartografie des Raumes
Bevor man zur Frage kommt, was gegenwärtige Ruinen seien, ist es wichtiger zu fragen, wo die gegenwärtigen Ruinen sind, denn die Installation im Kunstschaufenster macht eine multidimensionale Verortung notwendig. Formal könnte man sagen: Die Installation befindet sich in Wolfsburg in einem Schaukasten. Bei direkter Draufsicht erscheint die dreidimensionale Installation zweidimensional, die in den Raum greifenden Stahlstäbe werden als Linien wahrgenommen, während sich in einer anderen Betrachter*innenposition (von der Seite, schräg) die Dreidimensionalität der Metallstäbe in einer Absatzbewegung zu den Farbflächen und den Rasterfotografien offenbart. Bildgegenstand der Fotografien wiederum sind sich in der Natur befindliche Gesteinsbrocken, aus welchen metallene Stäbe rausragen. Durch die Größe der Prints sowie des Bildausschnitts scheinen die realen Dimensionen des Fotografierten zunächst unklar, allein vom eingenommenen Raum im Bild könnten die Geröllstücke z.B. Gebirgshänge mit Drainagerohren sein oder auch Aufnahmen eines Steinbruches. Erst bei genauerer Betrachtung kann man eine Referenzgröße wie ein Laubblatt ausmachen, welches zur Einordnung als eine Nahaufnahme führt. Folgt man der Erklärung des Künstlers, so handelt es sich hierbei um Betonreste der gesprengten Munitionsfabriken im Wald von Stadtallendorf, der Heimat Waletzkis. Stadtallendorf bekam erst durch diese von den Nationalsozialisten erbaute Industrie eine signifikante ökonomische Aufwertung. Diese Munitionsfabriken waren die größten europäischen Produzenten von Munition im zweiten Weltkrieg und wurden von den US-Amerikanern nach dem zweiten Weltkrieg demontiert bzw. gesprengt. Auch hier wird auf die leibliche Komponente in Waletzkis Installation rekurriert: Seine Biografie ist stark abhängig von der Frage, in welchem historisch-kulturellen Umfeld man aufwächst. Welche Infrastruktur prägt einen Ort und damit seine Bewohner?1 Anstatt illustrativ auf den persönlichen Bezug aufmerksam machen zu wollen, wird diese Information verschleiert. Die Fotografie bleibt nahbar und allgemein für die Betrachter*innen. Diese Allgemeinheit wird noch durch einen Akt aktiver Entlokalisierung verstärkt. So wie die gesamte Installation als Assemblage betrachtet werden kann, sind auch die Fotografien selber Collagen: Durch die Form der Bilder wird man als Betrachter bereits irritiert. Ohne die konventionell rechteckige Form wirkt die Perspektive unnahbar. Erst spät bemerkt man, dass tatsächlich einzelne Elemente, wie Betonbrocken, aktiv vor andere gesetzt wurden – Analog zur Gesamtstruktur der Polygone.
Man kann Waletzkis Arbeit an dieser Stelle in der Tradition der Romantik sehen. Nicht nur im Sinne des zarten, filigranen Naturbildes, welchem doch eine sublime Gewalt inne wohnt. Waletzki bedient sich der romantischen Ironie. Die romantische Ironie ist ein Stilmittel, welches die Rezipient*innen in einer falschen Sicherheit wiegt. Es scheint ein idealer Sachverhalt dargestellt zu sein, erst bei akribischer Analyse zeigt sich, dass etwas nicht stimmt, dass die gesamte Komposition auf einem fragilen Fundament fußt. Die romantische Ironie bekräftigt den Anspruch auf das Ideal als ein Ideal, indem es sich selbst unterläuft und sich so ins Verhältnis zum Realen setzt. Das Ideal ist imaginär. Diese Ruinenlandschaft befindet sich dann wiederum doch nicht in Stadtallendorf, sie ist eine idealisierte Ruine.
Waletzki bleibt uns jenseits des Titels einer Deutungsanleitung schuldig, die Betrachter*innen scheinen auf sich gestellt zu sein. Nur anhand eben jenes Titels ließe sich ein Rückschluss auf Zerstörung konstruieren, mit Stahlbeton als zeitlichem Marker für das 20.Jahrhundert. Rezipient*innen müssen anhand des eigenen habituellen Hintergrundes Assoziationen knüpfen, um diese Leerstelle der Information zu füllen. Hier findet eine Lokalisierung der Narration zwischen der Rezeptionsseite und der Arbeit statt. Die Fotografien zeugen, in Verbindung mit den Stahlzeichnungen, von einer klaren Autorenschaft und bildenden Erzählrahmen, zeitgenössische Ruinen, individuell und doch als Erzählung. Waletzki steckt nicht nur mit Rundstahl Verbindungen ab, auch durch die polygonale Formsprache wird klar bestimmt, was gesehen wird und was der Imagination vorbehalten ist. Die tiefblauen und rosafarbenen Flächen scheinen hierbei zunächst rauszufallen. Die konsequente Fortführung der Polygone zeigt zumindest auf einer formsprachlichen Ebene eine gewollte Ähnlichkeit zwischen allen Komponenten der Installation auf. Inhaltlich kann auch hier wieder eine Vielzahl an Verknüpfungen gemacht werden: am Klassem der Natur ließe sich rein farblich eine Assoziation zwischen Mensch und Wasser/Erde machen. Die Frage nach bunten Platzhaltern für weitere Bilder (Bluescreen) wäre auch möglich, die auf eine unendliche Erweiterung des Topos aufmerksam macht, örtlich und zeitlich beispielsweise. Zerstörung und Profit aus dieser ist in beiden Achsen unbegrenzt.2 Wir haben es hier also mit sozialen, lokalen, ästhetischen, politischen wie auch historischen Räumen zu tun. Die Komposition zusammenführend ist der Stahl, der wie eine Zeichnung oder weiterdenkend eine Kartografie funktioniert. Der Künstler kokettiert hier mit einer Zusammenführung der klassischen Gattungsrenzen zu einem fragilen Equilibrium; eine Auflösung des common sense, es wird nicht alles einheitlich und klar, im Gegenteil: Ruinen sind in der Definition klar, sie sind zerstörte Objekte vergangener Zeit. Vage ist die Bewertung; was in den Vordergrund gestellt wird oder was verschwindet. Jegliche Grenzziehung ist im Sinne Saussures willkürlich, doch wie die einzelnen Fragmente dadurch in Relation stehen, erzeugt Bedeutung.
- An dieser Stelle sei auch auf die parallele Verbindung Wolfsburgs inkl. Wirtschaft zum Nationalsozialismus hingewiesen. ↩︎
- Des weiteren ließe sich unter anderem auch mit Max Imdahls Analyse über das Erhabene in der monochromen Malerei ein Bezug dahingehend zur Romantik ziehen, deren Charakteristika auch die Abbildung von Ruinen enthielt. ↩︎